Schnuppe von Gwinner Schnuppe von Gwinner

Der Anhaltinische Kunstverein Dessau richtetet Lisa Reichmann bis zum 2.11.2019 in seinen Räumen an der Askanischen Straße 22 eine umfassende Werkschau ein. Zur Eröffnung am 20.September 2019 stellte ich den rund 50 Vernissage-Gästen die Künstlerin vor:

Tief berührt haben mich die gestickten Hände von Lisa Reichmann bei meiner ersten Begegnung mit ihrem Werk. Das war vor ziemlich genau zwei Jahren im Rahmen einer vom BBK Leipzig initiierten Ausstellung der „Textilen Bande“ am Projektort 4D im Tapetenwerk. Alle vertretenen Textilünstlerinnen – auch Lisa Reichmann, in deren aktuellen Solo-Ausstellung wir hier versammelt sind - studierten an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle bei Prof. Ulrich Reimkasten.

Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass gerade in der Textilkunst Gestaltung und technische Umsetzung immer Analogien zu tiefgehender Inhaltlichkeit bildet. Hängt das damit zusammen, dass sich textiltechnisches Tuen - zeitintensiv und kontemplativ - in einem Zwischenraum zwischen höchster Konzentration und Trance bewegt? Konzentriert auf die lustvoll geschickte Arbeit der Hände, deren wiederholte Handlungen im Detail, das Vorankommen der Arbeit in kleinsten Schritten, eröffnen sich weite Gedankenräume. Hier, in einer wahrhaftigen Grenzenlosigkeit und Freiheit, die der Handarbeit diametral entgegengesetzt erscheinen mag, entwickeln sich assoziative Gedankengespinste und fantasievolle Ideengebäude. Die Worte Text und Textil haben nicht umsonst sehr sehr viel gemeinsam, denn ihre Verwandtschaft liegt in ihrer vergleichbaren Entstehungsstruktur.

Ich nenne es das Textilkunst-Phänomen.

Hier ist es wieder, sich selbst mit Bedeutung aufladend, anarchistisch, ironisch, konzeptionell und/oder traditionsbewußt. Der offene Umgang mit alten und neuen Techniken wird mit dem starken Willen zur eigenen Kunst unterfüttert. Die Auseinandersetzung mit textilen Strukturen beinhaltet unbedingt das Handwerkliche, auch als Feier der Entschleunigung, als eigene Form der Meditation. Schliesslich steht der Betrachter textilen Artefakten gegenüber, die ihm nicht fremd erscheinen, die sich familiär und vertraut geben wie eben diese liebevollen Stickereien von Lisa Reichmann. Die dennoch nur unwillig ihre Botschaften preis geben, weil der weibliche Hausfleiß-Gedanke, unsere körperliche, emotionale und soziale Nähe zum allgemein Textilen wie eine Barriere für die meisten wirkt.

Die vier charaktervollen Studien der lebensgroßen, handgestickten Hände auf einem weißen Baumwollgewebe berühren uns. Sie konfrontieren uns mit einer zauberhaften Handarbeit die quasi sich selbst zum Thema macht. Sie setzen den Großmüttern, Tanten und Müttern ein bewegendes Denkmal. Auch wenn ihre Gestik einen Moment der Ruhe suggeriert so sieht man den Händen doch an, dass sie wenig gerastet sondern ein Leben lang täglich ihre Arbeit verrichtet haben. Nur die Kinderhände sind noch rund und zart und bilden einen wunderbaren Kontrast zu den schon gelebten Händen, deren ehrliche, ungeschönte Erscheinung von gelebtem Leben erzählt. Wie beeindruckend sie sind, individuell portraitiert von kundigen Händen.

Das Leben schreibt die Geschichten, schenkt Inspirationen und Assoziationen – auch für Lisa Reichmann die sich als bildende Künstlerin statt der Malerei dem Sticken zugewandt hat. Die Malerei bleibt auf der Oberfläche, doch mit Nadel und Faden kann sie auch in den Bildträger vordringen. Die Kleinteiligkeit der Strukturen kommt ihr näher, „der Vorgang des Stickens kann am besten das transportieren, was in meinem Kopf vorgeht,“ sagt sie. Die Themen und Zusammenhänge ihrer Arbeiten sind häufig sehr vielschichtig – doch sie hat gelernt damit umzugehen, dass das Sticken - das Medium Textil - von den meisten Menschen eben vor und in seinem gesamten kulturellen und sozialen Kontext gesehen wird. Sie verlangt nicht, dass ihre persönlichen, künstlerischen Intentionen unbedingt erkannt werden.

Doch einige Werke oder Werkgruppen möchte ich hier erläutern um sie als Betrachter zu inspirieren, den Intentionen von Lisa Reichmann zu folgen.

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© Schnuppe von Gwinner 9/2019

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